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Umso mehr kämpfe ich

Stöpsel-Weitflug und Hundeleinen

An den Anfang ihrer Geschichte kann sich Marlies nicht erinnern. Da muss Uwe nachhelfen. Er ist vom Fachteam medizinische Behandlungspflege in der DEUTSCHENFACHPFLEGE und hat Marlies bis hierher begleitet. „Marlies kam vor einem halben Jahr mit einer 24-Stunden-Beatmung in die Intensivpflege-WG“, berichtet er. „Schon nach zehn Minuten Kennenlernen habe ich gemerkt, dass da zuvor Mist gebaut worden war. Die Blutgasanalyse hat gezeigt, dass sie auf keinen Fall komplett abhängig von der Beatmung sein konnte.“

Marlies Grunderkrankung ist COPD, eine chronische Lungenerkrankung. Sie hat bereits zahlreiche OPs hinter sich. Deswegen war sie auch schon im Pflegeheim. Der Auslöser für eine drastische Veränderung in ihrem Leben war aber ein Sturz und massive Atemnot. „Ich kann mich nur noch an die Intensivstation erinnern“, sagt sie. Wie lange sie dort gelegen hat, weiß sie allerdings nicht mehr.

Uwe ergänzt, dass man dort versucht hat, sie mit einer Maske zu beatmen. Das sei aber gescheitert. „Im Krankenhaus wurde ansonsten nichts weiter getan“, so Marlies. „Das ist hier in der Wohngemeinschaft jetzt anders.“ Ihr sei alles erst so richtig bewusst geworden, als sie in die Pflege-WG gekommen ist. Und seitdem Marlies dort ist, geht es kontinuierlich bergauf mit ihr, da sind sich die beiden einig.

„Es hat viele Gründe, dass Marlies jetzt da steht, wo sie ist“, erklärt Uwe. „Die Eigenmotivation spielt eine große Rolle.“ Und davon hat Marlies viel. „Das Einzige, was ich akzeptieren könnte, wäre eine nächtliche Beatmung“, sagt sie mit Nachdruck. „Umso mehr kämpfe ich, dass ich zu 95 % wieder in Ordnung komme.“ Ihren Sauerstoffschlauch nennt sie Hundeleine. Und das passt ziemlich gut: Es zeigt nämlich, wie Marlies sich fühlt – angekettet. „Ich habe das so richtig satt.“

Uwe betont, dass Marlies auch so fantastisch vorangekommen ist, weil man sich in der WG gekümmert hat. „Man hat hier einfach nicht das Krankenhausgefühlt, es ist halt eine WG. Außerdem sind die Mitarbeitenden sehr nett und liebevoll“, ergänzt Marlies. „Wenn man auf andere Menschen angewiesen ist, ist das Zwischenmenschliche sehr wichtig.“ Und das stimmt hier ganz eindeutig. „Beim Thema Weaning, also der Entwöhnung von der Beatmung, muss es ein Agreement zwischen Klient*innen und Therapeut*innen geben“, so Uwe, „beide Seiten müssen mitmachen wollen.“

Marlies übt regelmäßig mit der Logopädin und hat sie sogar gebeten zwei- anstatt nur einmal pro Woche zu kommen. „Sie hat nach langer Zeit in der WG wieder ihre eigene Stimme hören können“, berichtet Uwe. Um die Atmung wieder zu trainieren, wird eine Verschlusskappe auf die Trachealkanüle gesetzt und das Sprachventil abgenommen. „Das ist erstmal beängstigend, denn ich habe ja die ganze Zeit hierüber geatmet“, sagt sie und zeigt auf das Gerät neben sich. Marlies möchte uns während unseres Gespräches unbedingt demonstrieren, wie das mit der Verschlusskappe geht. Sobald der Stöpsel auf der Kanüle sitzt, fängt Marlies an zu reden und erzählt ganz nebenbei, dass sie das zuvor erst einige wenige Male geübt hat. Man merkt, dass ihr das Sprechen und Atmen auf diese Weise noch schwerfällt, aber sie redet einfach immer weiter und wir sind tief beeindruckt – denn sie macht keine Anstalten, eine Pause einzulegen. Eine Kämpfernatur eben.

Marlies schmunzelt: „Beim ersten Mal ist der Stöpsel im Hohen Bogen aus der Kanüle geflogen, quer durchs Zimmer.“ Übung macht halt die Meisterin. Und bei Marlies geht es in großen Schritten voran. „Zu Anfangszeiten habe ich zehnmal so viel geklingelt wie jetzt“, sagt sie und meint damit den Schwesternruf. „Jetzt klingle ich nur noch, wenn ich abgesaugt werden muss. Ich übernehme immer mehr Aufgaben und das tut mir auch selbst gut.“ Sie hat ihre Beatmungsstunden drastisch reduziert.

Man sieht an Marlies deutlich, welche Rädchen ineinandergreifen müssen, damit eine Geschichte wie diese dabei herauskommt. Eigenmotivation, die richtige Umgebung und die richtigen Therapeut*innen gehen dabei Hand in Hand – immer mit einem klaren Ziel vor Augen: „Ein Pflegeheim ist für mich überhaupt kein Thema. Ich freue mich auf eine eigene Wohnung und ein eigenständiges Leben“, so Marlies. „Ich bin immer eine leidenschaftliche Radfahrerin gewesen und hoffe, das wieder machen zu können.“

Sie ist auf dem besten Weg dorthin: Mittlerweile ist die Trachealkanüle nämlich draußen. Marlies atmet jetzt eigenständig über Mund und Nase.